Sein Debüt für die Schweizer Fussballnationalmannschaft gab Stiel im Jahre 2000. Er nahm mit der Schweiz zum Abschluss seiner Karriere an der EM 2004 teil und stand bei allen drei Turnierspielen für die Schweiz im Tor. Insgesamt bestritt er 21 Länderspiele für die A-Nationalmannschaft.Kultstatus bekam Stiel u.a. durch sein Mitwirken bei einer Schweiz. Werbekampagne zur „Bereitstellung/Abholung“ von Mülltonnen unter dem Motto: „Ich weiss, wann ich raus muss“. Bei Bor. Mönchengladbach wurde Stiel sofort Stammtorhüter sowie Publikumsliebling und absolvierte bis zu seinem Karriereende im Jahre 2004 insgesamt 89 Bundesligaspiele.
torwart.de: Jörg, die WM steht vor der Tür und nicht nur in Deutschland beschäftigt man sich mit der Torwartfrage. Wie siehst du den Kampf um die Nummer 1 im Tor der Schweiz? Ist davon auszugehen, dass Diego Benaglio die klare Nummer 1 ist? Wer kommt dahinter und wer ist der Mann der Zukunft?
Jörg Stiel: An Diego Benaglio kommt man derzeit wohl nicht vorbei. Die Nummer 2 ist Marco Wölfli von den BSC Young Boys. Außerdem fährt Johnny Leoni vom FC Zürich als dritter Torwart mit nach Südafrika. Für die Zukunft müssen wir uns auf der Position des Torhüters keine Sorgen machen, denn der 21-jährige Yann Sommer vom Grasshopper Club Zürich lauert auf seine Chance. Ich habe ihn bereits mehrmals beobachtet und muss sagen, dass er viel Ruhe ausstrahlt. Ein großes Talent ist ebenfalls Benjamin Siegrist, der bereits im Alter von 18 Jahren bei Aston Villa spielt. Er ist mit der Schweiz U17-Weltmeister geworden und gefällt mir auch sehr gut.
torwart.de: Der WM-Ausfall von René Adler ging vor kurzem weltweit durch die Medien. Wie würde die Schweiz eine Verletzung von Benaglio treffen?
Stiel: Das ist pauschal schwer zu beantworten und kommt auf die jeweilige Situation an. Ich habe Wölfli zwei- bis dreimal in der Nationalmannschaft gesehen und da hat er einen guten Eindruck hinterlassen. Er hat sich spürbar weiterentwickelt und befindet sich in einem guten Alter. Mit den Young Boys könnte er außerdem die Meisterschaft feiern. Klar ist aber auch, dass es in der Schweiz keinen anderen Torhüter mit den Qualitäten von Benaglio gibt, auch wenn dieser derzeit noch Entwicklungspotenzial hat. Die abgelaufene Bundesliga-Saison ist für ihn nicht gut gelaufen und er war eine Weile verletzt.
torwart.de: Schauen wir zurück auf die EM 2008. Wie beurteilst du jetzt im Nachhinein die Leistung von Benaglio bei diesem Turnier im eigenen Lande? Hat er deine Erwartungen erfüllt oder war sogar noch besser?
Stiel: Das ist schwierig zu beurteilen. Natürlich kann man immer über das eine oder andere Gegentor, das eventuell zum Ausscheiden beigetragen hat, diskutieren. Er hat mit Sicherheit nicht sein ganzes Potenzial abgerufen. Ich habe mit ihm darüber gesprochen und mich selbst ein wenig wiedererkannt. Auch ich bin in der Nationalmannschaft nie auf das Niveau gekommen, das ich im Verein erreicht habe. Seitdem hatte er ein oder zwei Spiele, wie beispielsweise gegen Italien, in denen er überragend gehalten hat und ich denke, dass so etwas immer wieder möglich ist, da er über sehr viele Qualitäten verfügt. Insgesamt war er bei der EM 2008 gut, es war eine ordentliche Leistung. Nicht überragend, aber durchaus gut.
torwart.de: Du hast selbst bei EM 2004 im Tor der Schweiz gestanden. Was muss passieren, damit ein Torhüter bei solch einen großen Turnier punktgenau seine beste Leistung abrufen kann?
Stiel: Es muss alles stimmen.
torwart.de: Warum hast du die Erfahrung gemacht, dass du in der Nationalmannschaft nie dieselbe Leistung wie im Verein abrufen konntest? Wo liegen die Gründe dafür, dass ein Torhüter bei einem großen Turnier nicht alles abrufen kann?
Stiel: Man kann die Spiele im Verein nicht mit denen in der Nationalmannschaft vergleichen. Man hat dort meistens eine völlig andere Abwehr vor sich stehen und kann sich glücklich schätzen, wenn man zumindest einen daraus bereits aus dem Verein kennt. Es ist ja nicht so, dass ich in der Nationalmannschaft nur schlechte Leistungen gebracht hätte. In der EM-Qualifikation bin ich ziemlich nah an mein Optimum gekommen. Es mag einfach ein Gefühl sein, dass es etwas anderes ist, ob man auf dem Bökelberg spielt oder mit einer Mannschaft, die man nicht so häufig sieht, in irgendeinem Stadion in der Schweiz antritt. Auf dem Bökelberg hat man pro Saison acht- bis neunmal zu null gespielt, da wurden sprichwörtlich richtige Schlachten geschlagen. Das Niveau ist in Deutschland ganz anders als in der Schweiz. Fehler werden in der Bundesliga viel schneller bestraft. Noch extremer ist es jedoch in der Nationalmannschaft, wo man besonders bei großen Turnieren gegen die besten Spieler der Welt spielt. Da wird jeder Fehler eiskalt ausgenutzt.
torwart.de: Was gefällt dir am deutschen Team?
Stiel: Ich habe sowohl Adler als auch Neuer gesehen und muss sagen, dass Adler etwas mehr Ausstrahlung hat. Neuer ist mir zu nett und lieb. Sowohl auf dem Feld als auch als Mensch macht Adler einfach mehr her. Ich muss jedoch auch ganz klar sagen, dass Neuer eine sehr hohe Qualität hat. Das war für mich absolut erstaunlich. Gerade im Bereich des Mitspielens und in der Spieleröffnung verfügt er über enorme Stärken. Insgesamt sehe ich keinen großen Unterschied zwischen Adler und Neuer. Beide werden sich nach der WM um den Platz im deutschen Tor streiten. Von seinen Qualitäten her, hätte Neuer auch ohne Adlers Verletzung die Nummer 1 werden können. Ich gehe nicht davon aus, dass die deutsche Nationalmannschaft auf dieser Position große Probleme erleben wird.
torwart.de: Danke für das Gespräch!
Stiel: Bitte sehr!