Ob spektakulär oder sachlich: Diejenigen, die Stärken und Schwächen der Torhüter am besten kennen, nämlich all die Stürmer, die Woche für Woche versuchen, den Ball im Tor zu versenken, wussten, wie stark Enke war. Mehrfach wählten ihn seine Bundesliga-Kollegen zum besten Torwart der Liga. Es lief gut für Enke in Hannover. Und obwohl er, wie schon in seinen ersten Bundesligaspielen für Borussia Mönchengladbach, bei Hannover in einer echten Schießbude stand, verlängerte er zum ersten Mal in seiner Karriere einen Profivertrag.
„96 ist ein Stück weit mein Klub geworden“, bekannte Enke einmal. Er, der immer besser war als der Verein, für den er spielte. Trotz weit größerer sportlicher und finanzieller Möglichkeiten einem Klub die Treue zu halten, entspricht der Idealvorstellung der Fans. Und das ist in einer Zeit, in der Söldner-Rufe in den Stadien zu Evergreens werden, eine wirkliche Besonderheit. Fans dankten es ihm, indem sie einen Song aufnahmen mit dem wunderbar-naiven Refrain: „Er ist das Herz unseres Lieblingsvereins – Robert Enke Nummer 1!“ Man muss dieses Sinnbild nicht wörtlich verstehen, um zu begreifen, wie sehr die Fans unter dem Verlust von Enke leiden. Der – und das wurde von allen immer wieder betont – weit mehr als ein sportlicher Verlust ist. Seine Popularität gründete längst nicht nur darauf, ein guter, ein überragender Torwart gewesen zu sein, sondern auf seinem Charakter, seinem Engagement für Mensch und Tier. Auf der berührenden Art, wie er mit dem Tod seiner Tochter Lara umgegangen ist. Robert Enke war in vielerlei Hinsicht der andere Profi. Einer, der die glitzernde Fußballwelt um sich herum mit Distanz betrachten konnte. Einer mit Abitur, dem in seiner soliden Art viele Dinge wichtiger schienen als Autos und Frauen. Einer, der deshalb in der Welt des Profifußballs immer ein wenig fremd wirkte.
„Er ist das Herz unseres Lieblingsvereins – Robert Enke Nummer 1!“
Enkes Suizid hat Fragen aufgeworfen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Ist der Druck im Leistungssport, im Beruf, in der Gesellschaft allgemein zu groß? Es ist Vorsicht geboten bei der Suche nach Antworten. Teresa Enke und andere, die ihm sehr nahe standen, haben immer wieder die Ambivalenz betont, mit der das runde Leder Enkes Leben bestimmte. Einerseits hat der Sport, die Mannschaft Enke viel bedeutet und geholfen, andererseits beförderten Druck und Öffentlichkeit Versagensängste. Hinzu kommt die spezifische Situation des Torwarts im Spiel: Er steht im Fokus, ist allein. Er muss stark sein und das auch ausstrahlen. Hat der Flügelstürmer einen schlechten Tag, kann er abtauchen, unauffällig spielen. Das tun in Hannover viele. Ein Torwart aber kann das nicht. Jeder Fehler ist ein Gegentor, vielleicht spielentscheidend. Zwischen dem Fangesang, der alle Spieler außer dem Torwart gehen lassen möchte, und einem unverzeihlichen Fehler liegen oft nur Zentimeter. Dieser Druck besteht für jeden Keeper: von der Kreisklasse bis zur Champions League. Die Besonderheit im Profibereich sind Fanmassen und Medien, die nicht an Häme sparen, wenn das passiert, was Menschen eben manchmal passiert: ein Fehler. „Mir tut es schon fast körperlich weh, wenn ein Kollege durchs Dorf getrieben wird“, sagte Enke einmal – lange bevor Sascha Burchert im Tor von Hertha BSC Berlin gegen den HSV stand und erleben musste, mit welcher Wucht Boulevardmedien Schlagzeilen abfeuern. Nachdem Burchert zweimal mit dem Kopf klären musste und daraus Gegentore entstanden, erklärte die Bild-Zeitung den 19-Jährigen kurzerhand via Riesenschlagzeile zum „Torwart-Trottel“. Dass Burchert selbst nach nahezu einhelliger Meinung keinen Fehler gemacht hatte, dass Hertha in dieser Saison ohnehin weit größere Probleme hat, dass Burchert als Bundesliga-Neuling mit 19 Jahren vielleicht etwas Nachsicht verdiente – alles bedeutungslos, wenn der Boulevard ein Opfer sucht.
Enke kennt solch wuchtige Schlagzeilen nur allzu gut. Nachdem der FC Barcelona mit dem jungen deutschen Torwart im Pokal ausschied, titelte die Tageszeitung „AS“, Enke sei „die Witzfigur eines Torwarts“ und das spanische Fachmagazin „Sport“ sekundierte: „Enke hat sich sein eigenes Grab geschaufelt!“ Gemessen an dem, was anschließend in der Türkei folgte, war das noch harmlos. Nach seinem Wechsel zu Fenerbahçe Istanbul wurde er von den eigenen Fans mit Gegenständen beworfen. Das war im Jahr 2003 und Enke begab sich das erste Mal in psychiatrische Behandlung. Jahre später sprach Enke, der seine Worte stets mit Bedacht wählte, offen davon, dass diese Krise „etwas Existenzielles“ hatte. Erst rückblickend wird klar, wie sehr der Torwart in dieser Zeit gelitten haben muss. Und man beginnt auch zu verstehen, weshalb Enke nach Stationen in Weltstädten bei namhaften internationalen Klubs in Hannover heimisch werden konnte.
Die Frage, ob Enkes Tod etwas bewirken konnte, ob sich etwas im Umgang miteinander verändern könnte und überhaupt sollte, war umstritten. Es scheinen diejenigen Recht zu behalten, die wirkliche Veränderung schon immer für unmöglich hielten. Tage nach der Trauerfeier für Robert Enke, auf der Theo Zwanziger in einer viel beachteten Rede ein neues Miteinander zu beschwören versuchte, für mehr Menschlichkeit und Offenheit warb, explodierte beim VfB Stuttgart während einer sportlichen Talfahrt die Stimmung. Fans beschimpften und bedrohten Trainer und Mannschaft. Coach Markus Babbel, der in besonderer Weise vom Enke-Suizid getroffen war, fand daraufhin klare und ehrliche Worte der Fassungslosigkeit.
Das Wort „Mannschaft“ nur noch in Anführungszeichen
Auch in Hannover wandelte sich die nachsichtige Stimmung schnell. Medien, die anfangs große Sensibilität versprachen, schlugen nach schweren Wochen umgehend auf die Spieler ein. Die Bild-Zeitung vergab kollektiv die Note sechs und beschloss, das Wort „Mannschaft“ nur noch in Anführungszeichen zu nutzen. Schnell traf es auch Florian Fromlowitz, den Enke-Nachfolger, dem nach der Tragödie alle ihre Solidarität versicherten. Kurze Zeit später bekam auch er, dieser junge Torwart in einer unermesslich schwierigen Situation, massive und unterirdische Kritik ab. Sein Name wurde plötzlich auf der letzten Silbe betont und all das, worüber man in den Tagen des Enke-Dramas gesprochen und geschrieben hatte, war vergessen. Es verhält sich wohl wie bei Autofahrern, die an einer Unfallstelle vorbeifahren: Das Ereignis beeindruckt ungefähr ein paar Minuten lang – bevor der Nachdenklichkeit wieder davongerast wird.
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