Wiese mit starker Leistung
Das in der Republik eher als nordisch nüchtern bewertete Bremer Publikum kann auch sehr grausam sein. Ohne es zu wollen, haben sich die Hansestädter im Laufe der Jahrzehnte eine Art Torwart-Paranoia eingehandelt. Erst traf es Oliver Reck, der zwar immer noch die statistisch gesehen beste Bundesligasaison eines Torhüters aller Zeiten absolvierte (nur 22 Gegentore in der Spielzeit 1987/88), aber im kollektiven Gedächtnis als „Pannen-Olli“ gespeichert ist, dann Pascal Borel, einen nur durchschnittlich begabten Schlussmann, der allerdings die Qual erleiden musste nach jeder gelungenen Aktion ein erleichtertes Raunen im Weser-Rund zu hören. Jetzt ist es Tim Wiese, den die Fans ganz unbewusst durch ein Stahlbad schicken. Wiese ist ohne Zweifel einer der talentiertesten Torhüter des Landes, hätte er das höfliche Verhalten eines Robert Enke erlernt, wäre er wohl bereits im DFB-Kader registriert. Wiese ist stattdessen eine Art Torwartpunk, ein Anarchist auf der Linie. Seine Reflexe sind Weltklasse, auch in Eins-gegen-Eins-Situationen macht dem Schüler von Gerry Ehrmann keiner etwas vor. Dagegen ist sein oft undurchschaubares Stellungsspiel für jede Abwehr gewöhnungsbedürftig und auch sein allzu loses Mundwerk und exotisches äußeres Erscheinungsbild hat Wiese bereits einige Sympathien gekostet. Auch seine (wenigen) Patzer werden leider in die Geschichte des Vereins eingehen, zu entscheidend waren seine Fehlgriffe. Sein legendärer Ballverlust im sicher geglaubten Achtelfinale gegen Juventus Turin ist gerade einmal zwei Jahre alt, sein Doppelfehler gegen die Glasgow Rangers nur zwei Wochen. Wiese wird sich erst einmal daran gewöhnen müssen, dass sie ihn in Bremen nun wie ein rohes Ei behandeln. Jede gefährliche Situation am Sonntag gegen Wolfsburg begleitete Wiese mit einem entsetzten Raunen im Hintergrund, dann mit jenem erleichterten Stöhnen. Der erfahrene Schlussmann muss sich wie ein B-Jugendlicher gefühlt haben, dem die Masse nach jeder gelungenen Aktion für sein Auftreten dankt. Dabei war Wiese gegen Wolfsburg wieder in Bestform. Er entschärfte Schüsse von Grafitte und Marcelinho mit seiner ganz eigenen Eleganz, war beim einzigen Gegentor machtlos. Es spricht für Wieses gefestigtes Selbstbewusstsein, dass er auch nach sportlichen Nackenschlägen schnell wieder zu seiner Form findet. Und irgendwann wird auch das Raunen im Weserstadion wieder nicht mehr zu hören sein.
VfL-Schlussmann Diego Benaglio werden sie bald schon die Ehrenmitgliedschaft im Verein anbieten. Erstens, weil es in der jungen Wolfsburger noch nicht so viele Einträge im goldenen Vereinsbuch gibt, zweitens weil Benaglio in seinem neunten Spiel für Wolfsburg bereits zum vierten Mal zu Null spielte. Gegen Özil verhinderte mit einem irren Reflex den verdienten Bremer Ausgleich und schrie danach die ganze Anspannung in seine geballte Faust.