Michael Gurski exklusiv (2/2): „Frauen wollen das Warum“ – Von der Trainingspraxis bis zur Vision 2035
12.10.2025
Michael Gurski (Torwarttrainer RB Leipzig Frauen) erklärt wie er seine neue Trainingsphilosophie für Frauen in die Praxis umsetzt
Nachdem Michael Gurski die philosophischen Grundlagen seines neuen Ansatzes für das Torfrauentraining – allen voran sein Credo „Taktik vor Technik“ – dargelegt hat, stellt sich die entscheidende Frage: Wie wird diese anspruchsvolle Theorie zur gelebten Praxis auf dem Trainingsplatz?
Das Gespräch taucht nun tiefer in die Methodik des Torwarttrainers von RB Leipzig ein. Es geht um die Umsetzung seiner Prinzipien in konkreten Drills, die Erfolge und Grenzen beim Athletiktraining und die hohe Kunst des Detail-Coachings. Darüber hinaus weitet Gurski den Blick, spricht über seinen Coaching-Stil, formuliert klare Forderungen an die Strukturen im deutschen Fußball und entwirft seine faszinierende Vision von der „Torfrau 2035“.
Praxis & Trainingsmethodik
torwart.de: Wie trainierst du das Abfangen von Flanken konkret im Sinne deiner drei Prinzipien? Bitte beschreibe einen typischen Drill.
Michael Gurski: Ich trainiere die Raumverteidigung (Abfangen von Flanken) strikt nach Kommunikation – Entscheidung – Ausführung. Ein typischer Drill könnte wie folgt aussehen: Flankengeberin ist im Halbfeld rechts, eine Stürmerin, ein torwart.de-Dummy am Fünfer als Raumreferenz und 1-2 Verteidigerinnen. Die Szene startet, nachdem die Torhüterin ihren verbindlichen Erst-Call („Eng“) setzt und damit ihre Kette organisiert und ihre Startposition (1,5-2 m vor der Linie in zentraler Position) festlegt. Mit dem Fußkontakt der Flankengeberin erfolgt der Besitz-Call („Ich“, “Torwart“) und die Entscheidung für Laufwege, Absprungpunkt und ob die Flanke gefaustet oder gefangen wird. In der Ausführung achten wir auf die Schrittfolge (Sidesteps, Kreuzschritt), Körperwinkel und Arm- und Handbewegungen und Landung. Wir achten darauf, dass wir Variationen einstreuen und spielnah trainieren. Auf dieser Basis können wir die Torfrauen gezielt trainieren und entwickeln.
Infos zu Michael Gurski
Nationalität: Deutschland
Geburtstag: 21.03.1979 (46)
Geburtsort: Tübingen, Deutschland
Vereine als Trainer:
Sonnenhof Großaspach (Torwart-Trainer: 2015-2017), SpVgg Unterhaching (Torwart-Trainer: 2021-2023), RB Leipzig Frauen (Torwart-Trainer: 2023-heute)
Vereine als Spieler:
SSV Reutlingen, SpVgg Unterhaching, TuS Koblenz, SV Sandhausen, Wehen Wiesbaden, Arminia Bielefeld, VfB Eichstätt
Lizenz: Torwart-Trainer-Lizenz
torwart.de: Welches Verhältnis hat bei dir spielnahes Torwarttraining zu isolierten Technik-Sequenzen?
Michael Gurski: Das spielnahe Training nimmt fast die ganze Woche in Anspruch, damit Kommunikation, Entscheidung und Ausführung in spielrelevanten Situationen zur Anwendung kommen. Isoliertes Training nutze ich gezielt und kurz vor allem im Abschlusstraining und ist ein Vehikel für mich, sodass die Torhüterin nach dem Abschlusstraining mit einem guten Gefühl ins Spiel geht.
torwart.de: Welche Erfolge und Grenzen siehst du bei der Entwicklung von Sprung- und Schnellkraft bei Frauentorhüterinnen?
Michael Gurski: Wir sehen klare Fortschritte, wenn Sprung- und Schnellkraft frauengerecht und spielnah trainiert werden: bessere Schritt- und Absprungorganisation (vorletzter Schritt, Winkelgewinn), mehr Explosivität auf den ersten Metern, stabilere Landungen. Die Grenzen zwischen Männern und Frauen bleiben natürlich: Reichweite kann man nur begrenzt „erspringen“, im Mädchenbereich beginnen viele zu spät mit Athletik. Der Hebel liegt in der individualisierten Periodisierung im Bereich des Athletik- und Koordinationstrainings.
torwart.de: Du legst großen Wert auf Detail-Coaching. Kannst du je ein Trainings- und ein Match-Beispiel nennen, in dem du in die Mikro-Technik gehst?
Michael Gurski: Ich versuche immer, im Inhalt zu coachen und zu analysieren. Sowohl gute als auch erfolglose Aktionen sollten immer im Detail analysiert werden. Im Training ist gerade in häufigen Aktionen sichtbar, dass viele Entscheidungsfehler gemacht werden. Also coache ich hier noch mehr den Fokus auf Kommunikation, um der Torfrau zu helfen, erfolgreicher zu agieren. Im Spiel dagegen sind es oft wenige Aktionen in einer langen Zeit. Hier ist das ständige Lesen des Gegners enorm wichtig und das sogenannte Momentum - also was ist in der Spielphase gerade wichtig in den Aktionen aufgrund Spielstand, Matchplan oder Zeit.
torwart.de: Schüsse aus der Distanz sind oft eine Herausforderung. Auf welche Trainingsinhalte legst du hier besonderen Wert?
Michael Gurski: Wir haben in der Kommunikation und der anschließenden Entscheidung, klare Auslöser für unsere Position bei Schüssen - sowohl innerhalb als außerhalb der Box. Unser Stellungsspiel ist dann grundlegend verschieden und unsere Ausführungen dadurch ebenfalls. Bei Schüssen außerhalb des 16ers gehen wir bewusst auf eine tiefere Ausgangsposition, um die Reaktionszeit zu maximieren und die klassische Flugkurve des Balles länger lesen zu können und gegebenenfalls den gehaltenen Ball in sichere Zonen lenken zu können. Also haben wir einige andere Abläufe bei Fernschüssen als bei Schüssen innerhalb der „Golden Zone“. Mit diesen Details konnten wir bei unseren Torhüterinnen die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Torverteidigung deutlich erhöhen.
Michael Gurski legt großen Wert auf das "Detail-Coaching"
Rollenverständnis & Coaching-Stil
torwart.de: In deinem Buch unterscheidest du die Rollen Lehrer und Coach. Wann greifst du eher als Lehrer ein, wann als Coach? Bitte ein konkretes Beispiel.
Michael Gurski: Das war einer der entscheidenden Faktoren beim Arbeiten mit Jungs und Mädels - es verschieben sich die Punkte Wissen, Mut und Vertrauen in der täglichen Arbeit. Bei den Frauen ist Vertrauen nochmals viel stärker im Fokus, dadurch ist der Lehrer oft durch den Coach ersetzt worden in den letzten Wochen und Monaten. Frauen wollen das Warum – wenn das klar ist, folgt eine schnelle Umsetzung durch die Mädels. Deshalb bin ich heute häufiger Coach als Lehrer; zum Lehrer wechsle ich gezielt, wenn Technikabfolgen oder klare Standards (Ausgangsposition, Körperachse) gefragt sind.
Struktur & Förderung
torwart.de: Du schreibst, dass viele deutsche Torfrauen »jahrelanger systematischer Förderung« entbehren. Wer muss den ersten Schritt tun: Verband, Verein oder Trainer*in – und wie könnte er aussehen?
Michael Gurski: Es ist tatsächlich ein Henne-Ei-Thema – aber irgendwer muss anfangen. Kurzfristig sehe ich die Vereine in der Pflicht: Der Zulauf an Mädchen ist enorm, also braucht es gut ausgebildete Torfrauen-Trainer im Alltag. Das heißt: Trainingszeit sichern, Qualität vor Quantität und – wo Expertise fehlt, kann man gezielt Kooperation mit Stützpunkten/Torwartschulen machen und finanziell unterstützen, damit Mädchen nicht benachteiligt werden. Übergeordnet wünsche ich mir einen eigenen Ausbildungsweg für Torfrauen-Trainer. Aktuelle Lizenzen sind stark am Jungen-/Männerfußball ausgerichtet. Es wäre sehr hilfreich, wenn Frauen-Trainings-Module auch verbindlich in Torwartlizenzlehrgänge beim DFB und darüber hinaus bei der UEFA integriert werden würden und es eine Speziallizenz für das Torfrauentraining geben würde. Der DFB und die Verbände könnten parallel regionale Stützpunkte ausbauen, höhere Frequenz anbieten und Vereine bezuschussen, die ausgewiesene Torfrauen-Trainer einsetzen. Für Talente muss es flächendeckend eine Infrastruktur für die Förderung, wie unser Sportinternat, geben, damit früh in der Tiefe ausgebildet wird. Vereine und Verbände bauen Kompetenz auf und schaffen Infrastruktur. Die Torhüterinnen werden sofort davon profitieren.
Bei RB Leipzig hat Gurski Zugriff auf das sportpsychologische Team des Vereins, dies ist ebenso ein wichtiger Teil im Männer, wie im Frauenfußball
Psychologie & Mentales
torwart.de: Welche Mental-Tools nutzt ihr, damit Torfrauen Fehler schneller verarbeiten können?
Michael Gurski: Der Einsatz von sportpsychologischen Methoden nimmt auch im Frauenbereich immer weiter zu. Im mentalen Bereich wird es in Zukunft noch wichtiger sein, die Spielerinnen zu unterstützen, denn die Aufmerksamkeit und das öffentliche Interesse am professionellen Frauenfußball wächst stetig und mentale Stärke wird auch den Torhüterinnen künftig ein wichtiger Leistungsfaktor sein. Wichtig ist, dass die Torhüterinnen für sich Methoden entwickeln, wie sie z.B. Fehler verarbeiten können und wie sie mit dem öffentlichen Druck umgehen können. Zudem setzen wir auch gezielt Methoden der Neuroathletik ein, um die Leistung im kognitiven und koordinativen Bereich weiter zu verbessern. Bei RB können wir auf das Team der Sportpsychologen im Verein zugreifen.
Individualisierung
torwart.de: Bei RB arbeitest du gleichzeitig mit Elvira Herzog und dem Toptalent Mirja Kropp (Jg. 2009). Wie passt du dein Konzept an, um beide optimal – und individuell – voranzubringen?
Michael Gurski: Ich arbeite mit beiden im selben methodischen Rahmen. Organisation und Inhalte werden individuell angepasst. Zunächst gibt es je eine 1:1-Analyse: Wir schauen uns per Video Aktionen aus Training und Spiel an, gleichen das Selbstbild der Torhüterin mit ihrem Fremdbild ab und definieren 2–3 Entwicklungsziele für die Woche. Nach dem Trainingsblock folgt ein kurzes Review („Wie hat es sich angefühlt?“). So entsteht Schritt für Schritt ein eigener Stil. Mein Leitspruch dabei ist: Ohne Erfahrung kein Wissen – ein Lehrender bleibt Lernender.
Ausblick
torwart.de: Wie sieht deine »Torfrau 2035« aus – und welche Entwicklungsschritte werden bis dahin entscheidend sein?
Michael Gurski: Die Torfrau 2035 ist schneller in Kommunikation und Entscheidung, variabler in der Positionierung und voll in den Spielaufbau eingebunden. Technisch sind wir heute schon gut; der große Sprung passiert über die Fähigkeit, das Spiel besser zu lesen, Systemverständnis, klare Kommunikation und hervorragendes taktisches Verständnis bezogen auf die Position der Torfrau. Der entscheidende Hebel bis dahin ist für mich eine gezielte Ausbildung von Torfrauen-Trainer:innen – Inhalte, Methodik und Periodisierung für Frauen. Das wird der Multiplikator: mehr Qualität im Alltag, mehr Talente oben. Wir haben heute eine deutlich bessere Ausgangsbasis. Wenn wir den 13- bis 15-Jährigen konsequent das Beste geben, steigt die Wahrscheinlichkeit massiv, dass wir eine Generation bekommen, die ähnlich prägend wirkt, wie es im Männerbereich mit den Torwartikonen Manuel Neuer oder Oliver Kahn passiert ist – nur eben mit einem frauenspezifischen Profil.
torwart.de: Michael, wir bedanken uns herzlich für das hoch spannende Interview.
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