Michael Gurski exklusiv (1/2): Warum der Männeransatz nicht reicht – Die Philosophie des neuen Torfrauentrainings
12.10.2025
Michael Gurski (Torwarttrainer RB Leipzig Frauen) mit einer neuen Denkweise an das Training mit Torhüterinnen, wie Elvira Herzog (Schweizer Nationaltorhüterin)
Der Frauenfußball wird immer professioneller, doch das Torwarttraining orientiert sich oft noch an veralteten Mustern aus dem Männerbereich. Michael Gurski, Torwarttrainer der Frauen von RB Leipzig, fordert ein radikales Umdenken. Er erkannte, dass der alte „Männeransatz“ unzureichend ist und hat mit seinem Buch „Torfrauentraining“ eine neue, spezifische Blaupause für die Ausbildung von Torhüterinnen geschaffen, die auf deren einzigartige athletische und kognitive Voraussetzungen zugeschnitten ist.
Im großen, exklusiven, zweiteiligen torwart.de-Interview legt Gurski seine komplette Philosophie offen. Er erklärt seinen fundamentalen Leitsatz „Taktik vor Technik“, warum Koordination und Kognition oft falsch trainiert werden und wie sein Analyse-Raster die wahren Ursachen für vermeidbare Gegentore aufdeckt. Im ersten von zwei Teilen des Gesprächs ergründen wir die Entstehung und das theoretische Fundament seines wegweisenden Ansatzes.
Entstehung & Motivation
torwart.de: Warum braucht es überhaupt ein eigenes Buch für das Torwarttraining der Frauen?
Michael Gurski: Die verfügbare Torwarttrainingsliteratur unterscheidet nicht zwischen dem Training der Frauen und Männer. Es gibt spezielle Literatur und Medien zum Torwarttraining für Kinder und Jugendliche. Allerdings fehlt ein spezielles Buch zum Torfrauentraining.
Bei der letzten WM der Frauen betrug die durchschnittliche Größe der Torhüterinnen 175 cm. Athletik und Kraft sind bei Frauen anders als bei Männern. Schon daraus ergibt sich die Notwendigkeit, bestimmte Aspekte des Torwartspiels anders zu denken. Außerdem haben wir festgestellt, dass auch in kognitiven und koordinativen Bereichen Frauen und Männer unterschiedliche Herangehensweisen haben. Ich möchte mit meinem Buch „Torfrauentraining“ diese Lücke schließen und Anregungen und Ideen für das Torwarttraining mit Frauen anbieten.
Infos zu Michael Gurski
Nationalität: Deutschland
Geburtstag: 21.03.1979 (46)
Geburtsort: Tübingen, Deutschland
Vereine als Trainer:
Sonnenhof Großaspach (Torwart-Trainer: 2015-2017), SpVgg Unterhaching (Torwart-Trainer: 2021-2023), RB Leipzig Frauen (Torwart-Trainer: 2023-heute)
Vereine als Spieler:
SSV Reutlingen, SpVgg Unterhaching, TuS Koblenz, SV Sandhausen, Wehen Wiesbaden, Arminia Bielefeld, VfB Eichstätt
Lizenz: Torwart-Trainer-Lizenz
torwart.de: Gab es einen Moment, in dem dir dein bisheriger Männeransatz definitiv unzureichend erschien – und was hat dich motiviert, ein neues Paradigma zu entwickeln?
Michael Gurski: In meiner Zeit im Männerbereich, u.a. bei Unterhaching, hatte ich immer wieder mit Torhütern gearbeitet, die unterschiedliche körperliche Voraussetzungen hatten. Dies erforderte bereits eine Individualisierung des Torwarttrainings mit entsprechendem Zuschnitt auf die jeweiligen individuellen Voraussetzungen der Torhüter. Als ich dann vor drei Jahren das Torwarttraining bei den RB-Frauen übernahm, war mir schnell klar, dass sich die grundlegenden Voraussetzungen und Prinzipien des Torwarttrainings mit Frauen in vielen Bereichen von dem Training mit Männern unterscheiden würde und eine angepasste Form dringend notwendig war. Ich erachtete es auch für notwendig, dass z.B. das Wording und die Begrifflichkeiten auf die Frauen angepasst werden sollten.
torwart.de: Welche Vorurteile oder Widerstände hast du erlebt, als du als Torwarttrainer aus dem Männerfußball in den Frauenbereich zu RB gewechselt bist?
Michael Gurski: Unsere Nummer eins, Elvira Herzog, hat es in dem Buch ganz gut beschrieben – es ist immer mit Widerständen zu rechnen, wenn ein ehemaliger Männer-Profi auf einmal bei den Frauen anfängt zu arbeiten und dann auch gleich einen komplett anderen Ansatz der Trainingsphilosophie fährt. Eine der wesentlichen Veränderungen war, dass wir in verschiedenen inhaltlichen Blöcken über einen gewissen Zeitraum arbeiten. Der erste inhaltliche Block ist die Torverteidigung. Da war die Umstellung beim Torwartteam noch nicht so gravierend gegenüber dem bisherigen Training. Im Block der Raumverteidigung habe ich dann deutliche Veränderungen in den Bereichen Anpassung der Startposition, der Körperachsen und der Schrittfolgen vorgenommen. Es stellten sich dann schnell Erfolgserlebnisse ein, sodass sich mein neuer Ansatz im Bereich der Raumverteidigung im Torhüterinnenteam schnell überzeugen und durchsetzen konnte.
Mit Kathrin Lehmann hat Gurski in seinem neuen Buch "Torfrauentraining" als Co-Autorin starke Expertise (foto: firo)
torwart.de: Wie wichtig war es für dich, mit Kathrin Lehmann eine ausgewiesene Expertin im Torfrauenbereich als Co-Autorin an Bord zu haben?
Michael Gurski: Ich bin sehr froh, dass ich Kathrin Lehmann als Co-Autorin für das Buch gewinnen konnte. Mit ihrer langjährigen Erfahrung als Bundesligatorhüterin, u.a. bei Bayern, und auch als Torhüterin im Eishockey ist sie eine hervorragende Expertin des Torwarttrainings und des Frauenfußballs. Sie weiß aus ihrer eigenen Erfahrung sehr genau, wo man in der Ausbildung der Torfrauen ansetzen sollte. Sie war auch schon im Vorfeld meines Wechsels vom Männerbereich zu RB Leipzig für mich sehr wertvoll. In Kombination mit meiner Trainingsphilosophie und der vorhandenen Dokumentation war der Schritt zur Buchidee nicht mehr weit.
Mit dem „RB- Head of Global Goalkeeping“, Thomas Schlieck, hatte ich zudem einen der größten Experten des Torwartspiels im Allgemeinen an meiner Seite, der die RB-Torwartphilosophie mit Unterstützung der lokalen Torwarttrainer entwickelt, die in allen RB-Standorten gelebt wird. Gemeinsam haben wir die Grundstruktur und weitere wesentliche Bausteine des Buches erarbeitet.
torwart.de: Für wen ist dieses Buch geeignet?
Michael Gurski: Das Buch richtet sich an alle, die Torhüterinnen ausbilden oder mit ihnen arbeiten: Torwarttrainer:innen, Cheftrainer:innen, Athletik- und Videoanalyst:innen sowie Nachwuchscoaches – ebenso für Torhüterinnen selbst. Zugleich bekomme ich seit der Veröffentlichung viel Feedback aus dem Herrenbereich: Gerade die Kapitel zur Raumverteidigung, Kommunikation und spielnahen Trainingsarchitektur liefern dort wertvolle Impulse.
Philosophie & Key Points
torwart.de: Was verstehst du unter einer „ganzheitlichen Ausbildung“ der Torfrauen?
Michael Gurski: Unter einer ganzheitlichen Ausbildung verstehe ich, Torhüterinnen so auszubilden, wie sie am Wochenende wirklich spielen – mit klaren Schwerpunkten, festen Prinzipien und einer konsequenten Fehleranalyse. Leitgedanke: „Taktik vor Technik“. Zuerst klären wir Positionierung, Entscheidungen und Antizipation, erst dann verfeinern wir die passende Technik. Gerade im Frauenbereich ist das der größere Hebel. Ich denke, es ist sehr wichtig im Frauen- und Mädchenbereich altersgerecht, spielnah und prinzipienbasiert zu trainieren. Ich halte es z.B. für nicht zielführend jahrelang im Ausbildungsbereich nur Abdruck und Einzeltechniken zu trainieren. Leider wird noch viel zu oft so trainiert.
Im Frauenfußball muss als Torhüterin besonders mit guter Wahrnehmungsfähigkeit und schnellen, optimierten Entscheidungen gearbeitet werden, um den Unterschied in der Physis ausgleichen zu können (foto: firo)
torwart.de: Die fünf Key Points – Psyche, Physis, Taktik, Koordination, Kognition – bilden das Fundament deines Buches. Welcher dieser Punkte wird im Alltag der meisten Vereine noch am stärksten unterschätzt – und warum?
Michael Gurski: Am stärksten unterschätzt werden die Punkte Koordination und Kognition in Kombination. In vielen Vereinen laufen beide zwar mit, werden aber nach den Mustern im Männerbereich trainiert. Torfrauen haben andere Bewegungsrhythmen, Schrittfolgen und Hand-Fuß-Kopplungen – der Hebel liegt daher selten im „mehr Abdruck“, sondern in früher Positionierung, optimierten Schrittmustern und schnelleren Entscheidungen. Was oft fehlt, ist der Transfer: Ich arbeite mit kurzen Entscheidungsfenstern, variablen Flugbahnen und Pflicht-Calls vor der Aktion; bewertet werden Timing, Schrittzahl und Winkelgewinn – nicht nur die Parade.
torwart.de: Warum steht für dich die Kommunikation an erster Stelle dieses Rasters?
Michael Gurski: Für mich ist Kommunikation, „wie lese ich die Situation, bevor ich in die Aktion starte“, von entscheidender Bedeutung. Eine gute Ausgangsposition im Feld ermöglicht mir, eine gute Entscheidung zu treffen und daraufhin meine Ausführung oder technische Abfolge sinnvoll einzusetzen. Allerdings, wenn die Kommunikation schlecht oder erst gar nicht vorhanden ist, wird vieles dem Zufall überlassen. Entscheidungen der Torfrau werden falsch getroffen, und die Ausführung der Technik ist nicht optimal. Im Männerfußball lassen sich Positionsfehler häufiger über Dynamik/Physis kaschieren. Im Torwartspiel der Frauen gibt es weniger Puffer – Timing des Calls und Positionierung werden sofort bestraft, wenn sie nicht stimmen. Die Torhüterin kann in der Kommunikationsphase Senderin (verbal: „Ich“, „Block“, „Torwart“) und Empfängerin (Rufe der Mitspielerinnen / Signale der Kette) sein.
torwart.de: Viele Torhüterinnen sind technisch top, kassieren aber trotzdem vermeidbare Gegentore. Wie hilft dein Analyse-Raster, die wahren Ursachen aufzudecken und gezielt zu trainieren?
Michael Gurski: Ich zerlege eine Torverteidigungsaktion in die drei Prinzipien Kommunikation, Entscheidung und Ausführung. Für mich ist wichtig, dass ich im Detail analysiere, ob die Torfrau einen klaren verbindlichen Erst-Call (z.B. beim Trigger „freier Fuß“) inhaltlich korrekt an die Mitspielerinnen absetzt und ob sie dabei die richtige Ausgangsposition eingenommen hatte. Erst dann wird die Entscheidung und Ausführung im Detail betrachtet und überprüft. Somit hat der Trainer die Möglichkeit, auch gezielt an der tatsächlichen Ursache mit der Torfrau zu arbeiten.
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